Damals Ferien 1901 Ferienzeit im Kinderasyl! Ein glutheißer Hochsommernachmittag! - die meisten Zöglinge sind in den Ferien bei ihren Verwandten. Nur einige wenige sind zum "Raupen-Klauben" in den Gemüsegarten beordert. Wir sind zu siebt; aber keiner hat bei der Prügelhitze große Lust zu der an und für sich nicht gerade beliebten Arbeit. Einer, es war wohl Eisenhuber Max, macht den Vorschlag: "Wisst`s was! mia dean bad`n im Bassän. Es ist koa Mensch net da; also los!" - Gesagt getan! Die blauen Gartenschürzen vertreten die Stelle von Badehosen und lustig plätschern wir in dem kleinen, lauwarmen Bassin herum. Doch schon bald schreit einer: Jessas! do kimmt da Vata und da Knoll Simmerl (wie wir respektlos unseren Hausvater und Herrn Stadtpfarrer titulierten)! Ein Blick über den Bassinrand überzeugte uns davon, dass tatsächlich die beiden Herren, ohne uns vorläufig zu bemerken, von den Beschäftigungshallen her gegen den Gemüsegarten kamen. Irgend einer gibt die Parole aus: Mia schliaffa unter dö G`müskörb eini und krabbeln zu unserem Gwand ins Werkzeughüttl hintre. Mit affenartiger Geschwindigkeit raus aus dem "Bad" und "Deckung gegen Sicht" unter die G`müskörb und wenige Minuten darauf krabbeln sieben Körbe durch den Mittelgang zum Werkzeughäusl. Ich war der letzte in der Reihe. Auf einmal tönts hinter mir: Du! da schaug hintre Niedermayer, da laufa deine G`müskörb alloa im Garten spazieren!!" Dann eilige Schritte, heftiges Schnaufen und - o Schreck! Meine einzige Bedeckung nach der Kehrseite meines Daseins zu, mein Korb wird in die Höhe gehoben und ich stehe - auf allen Vieren, meine unbekleidete Erziehungsfläche triefend und wehmütig gen Himmel reckend, den Kopf a la Vogel Strauß dafür umso tiefer in den Boden stecken - vor unserem gestrengen "Vata" und dem besonders im Beichtstuhl gefürchteten und doch beliebten Stadtpfarrer. Ein Griff an die "Schnalzfedern" - Direktor Niedermayers beliebter Kriegsgriff - und ich stehe aufrecht. Im Nu sind auch die anderen Übeltäter ihrer schützenden Körbe beraubt und stehen nun - man stelle sich das entzückende Bild mal lebhaft vor - auf allen Vieren, mit tief in den Boden gesteckten Köpfen und ragender, tropfnasser Kehrseite in Reihenkolonnen vor den beiden Gestrengen. Bald waren auch die anderen mittels "Schmalzfedern-Griff" wieder auf ihre Pedale gestellt. Hätte einer von uns den Mut gehabt, aufzuschauen, dann hätte er bemerkt, daß die Lage gar nicht so schlimm war, daß die beiden Herren genug zu tun hatten, das Lachen zu verbeißen; bis sie schließlich doch beide gleichzeitig gewitterähnlich losplatzten und lachten, lachten, bis ihnen die hellen Tränen in den Augen standen. Mit ein paar Kopfnüssen wurden wir gnädig verabschiedet und zogen uns mit der "Kehrseite voran" gegen das Werkzeugäusl zurück. Nummer 93 Nach dem allzu frühen Tode meines Vaters begann für uns zwei Buben ein wenig schönes Leben. Gewissenlose Leute hatten unsere Mutter noch um das Wenige gebracht, was die vierjährige Krankheit des Vaters nicht verzehrte. Gar oft gab's schmale Kost, die die Mutter in schwerer Arbeit sauer verdienen mußte. Heute bin ich dem Geschick nicht gram, daß es mich schon als Kind bittere Zeiten erleben ließ. Viele Herrensöhnchen sind dem Anprall des Lebens nicht gewachsen, weil ihr Kindesleben auf ebenen Wegen verlief. Freilich, das Ertragen dieser Zeiten fiel uns Buben nicht allzu schwer. Eine glückliche seelische Veranlagung half insbesondere mir oft recht schnell über das Bittere hinweg. Wirklichen Hunger brauchten wir ja doch nicht zu leiden. Da kam jene Zeit, wo die Lebensbedingungen über die Bewußtseinsschwelle traten. Ich empfand den schweren Kampf meiner Mutter, auch nur das Notwendigste zu beschaffen. Nach außen wollten wir doch nie zeigen, wie es bei uns wirklich herging. Wir sind trotzdem nie barfuß in die Schule gegangen, auch im heißesten Sommer nicht. Da kam eines schönen Tages meine Mutter mit der Kunde heim, wir Buben müßten fort, einer von uns sogar schon bald. Der war ich, wie sich sofort ergab. Tröstlich an der Sache schien mir, daß ich die Stadt München nicht zu verlassen bräuchte. Mir war mein Bestimmungsort völlig unbekannt.. Eines Tages - 1895 - löst sich auch dieser Zweifel. Ohne Gepäck wanderten wir den langen Weg aus dem damaligen Bauerndorf Schwabing durch die ganze Stadt. Bekannte Viertel aus der frühesten Kindheit tauchten noch mal auf, über die Isar ging's, an einem Gefängnis vorüber, dann eine endlose Bretterplanke entlang. Da stands! Groß! Groß das Haus, groß der Eingang, groß die Fenster, groß der Hausgang und groß eine Dame mit Zwicker. Ein großes Zimmer mit einem großen Schreibtisch und ein riesiger Mann erhob sich aus dem großen Stuhl. Den Mann fürchtete ich vom ersten Augenblick an und ich bin dieses Gefühl auch nie mehr losgeworden. - Dann kam der Abschied von der Mutter. Er wickelte sich sehr undramatisch in nüchternster Art ab. Tröstlich blieb der Gedanke, daß mich die Mutter bald besuchen wollte. Die große Dame mit Zwicker nahm mich und führte mich an einen langen Tisch in einem großen Zimmer. Da stand an einem Klappdeckel die Nummer 93. Die gleiche Nummer fand ich auf dem Gang an einem Kleiderrechen, dann auf einem Kleiderschrank, ferner an meinem Bett; in gar vielen Sachen immer wieder die Nummer 93. 93, das war also ich. Das Köstlichste war aber doch der Kleiderkasten mit der Nummer 93. So verschwenderisch war`s daheim nicht hergegangen. Graue und blaue Anzüge, ein ganzer Stoß Hemden und Strümpfe und weiß Gott was noch. Aber - die vielen fremden Gesichter!! Ein Neuer! Der war nicht hoch einzuschätzen! Von Gestalt unscheinbar. Der scheue Blick verhieß wenig Schneid! Und die brauchte man. Man war doch ständig in zwei Lager gespalten und damals tobte ein bitterer Religionskrieg. Aber für mich war wenig Zeit, mich an den Kämpfen aktiv zu beteiligen. Freie Stunden brachte ich im Speisesaal zu an einem alten Tafelklavier oder im "Glaskasten" mit einer alten Geige. Der große Mann, der mir schon bei meinem Eintritt Furcht einflößte, wuchs zum Unbegreiflichen, als er einmal in eine solche Übungsstunde kam und mit den Glacehandschuhen an den Händen geigte. Einmal wollte es ein gütiges Geschick, daß durch ein offenes Fenster Regen eindrang, unsere Violinkiste erreichte und die Geigen erweichte. Ein paar Stunden fielen doch aus. Wir vermißten sie damals gern. Stadtpatrouille mitten im Frieden Es bleibt ein ewiges Vorrecht der Jugend, mit unstillbarem Drang ins Weite, in die Freiheit zu streben und bei Anstaltzöglingen entwickelt sich dieser Drang nach Freiheit und Unabhängigkeit in ganz besonderem Maße. So darf es nicht wundernehmen, daß viel Geistes- und Willenskräfte nach der Richtung köstlicher Freiheit sich Bahn brachen in Form von Stadtpatrouillen bei jeder Gelegenheit. Jede kleine Besorgung verleitete den Asylianer echter Prägung zu einem "Seitenschwumm" in neue unbekannte Gebiete, zu Besuchen bei Anverwandten oder Bekannten, um einerseits die Lust persönlicher Freiheit zu genießen, andererseits ein besonderes Leckerlein sich zu ergattern. Waren da zwei junge Möpse besonderer Art, die ihre mathematischen Kenntnisse dazu benützten, den Stundenplan der Realschule zu verbessern, indem sie am Freitag von 3 - 4 Uhr für eine freie Stunde Mathematik als ihre Beschäftigung angaben. Die solchermaßen gewonnene Zeit wurde benutzt, um nun nach Herzenslust dem Freiheitsdrang zu frönen und nach 4 Uhr hochbefriedigt mit den übrigen Schülern unschuldsvoll von der Schule heimzuwalzen. Da die Sache schon in den ersten Wochen des Schuljahres, das damals noch im September begann, vorzüglich klappte, wuchs die Unternehmungsfreude dergestalt, daß die beiden Missetäter sich von den Stadtbuben Mäntel und Mützen leihen ließen, um in Verkleidung ihrer Zwingburg an der Hochstraße kühnen Auges von außen besichtigen zu können, ohne dort einpassieren zu müssen. Der weitere Weg führte dann regelmäßig über die Fraunhoferbrücke in die Westermühl- und Ickstattstraße, in der die beiden Straßenindianer ihren häuslichen Wigwam aufsuchten. Vorsichtig und scheu, wie junge Vögel, trafen sie alle Sicherungen und Vereinbarungen die sie vor Entdeckung schützen sollten, wie z.B. der gemeinsame Heimmarsch mit brüderlicher Teilung der ergatterten Fressalien. Einmal als wir gerade die Fraunhoferbrücke passierten und mein Freund Wastl alle Backen voll Kuchen hatte, erschien aus der wogenden Menschenmenge unvermittelt und plötzlich die Gestalt des Herrn Lehrers Spindler. Mit Blitzesschnelle schob ich den kauenden Wastl hinter meinen breiten Rücken und grüßte freundlichst mit pochendem Herzen den Herrn Lehrer. "Ja grüß Euch Gott, Buben, was tut denn ihr hier?" fragte wohlwollend der Herr Lehrer. "Wir haben für unser Fräulein in der Stadt etwas besorgen müssen" war die aus dem Stegreif geborene Antwort und eh wir uns versahen, war die Gefahr mit einem gemütlichen "So, so" vorüber. So verlief das Schuljahr Monate hindurch in wunschgemäßer Ungestörtheit und die beiden Wanderratten wurden immer sicherer und frecher. Sie trafen sich nicht mehr an der Maximilianskirche, sondern benutzten einen grauen Wasserhydranten der Stadtgemeinde München als Telegraphen, um selbständig und allein Heimwandern zu können. Der zuerst an der Kirche beim Hydranten Vorbeikommende bespukte an deutlich sichtbarer Stelle den mächtigen Eisenkopf und ging dann langsam voran. Der Nachkommende besichtigte die "Mitteilung" und holte in beschleunigter Gangart den Voraneilenden ein. War der Hydrant trocken, so wusste der Ankommende, dass niemand vor ihm war und besorgte die "feuchte Nachricht" für den Nachzügler. Dies verblüffend einfache Verfahren funktionierte bis zum Tag der Sühne vollkommen sicher und störungsfrei. Der 25. Mai des Jahres 1908 war ein Freitag. Die Realschule rüstete zum herrlichen Maifest und meine Wenigkeit hatte den ehrenvollen Auftrag, ein Gedicht zu dieser Feier vortragen zu dürfen. Um 3 Uhr Nachmittag sollte die Hauptprobe sein. In Wirklichkeit befand ich mich an der Isar und hatte Gedicht und Maifeier vergessen. Rektor Bauer klingelte telefonisch ins Kinderasyl, wo der Junge steckt. Eine Nachforschung in der großen Knabenabteilung war ohne Erfolg. Inzwischen waren wir links der Isar und Wastl zog, nachdem er am Hydranten seine Mitteilung an mich hinterlassen hatte, friedlich heim, wurde vom "Vater" in Empfang genommen und verhört. Ich selbst eilte mit einem Gugelhupf um 4 Uhr nach Hause und war nicht wenig erstaunt, als vor dem großen Anstaltsgebäude der Herr "Direktor" auf und ab wandelte. Geistesgegenwärtig sagte ich mir, durch freundlichen Gruß wirst du ungerupft der drohenden Gefahr entrinnen und lüftete daher wohlanständig und ehrfürchtig die Mütze. Ein ruhiges "Komm mit mir" ließ in mir die Hoffnung aufquellen, vielleicht handelt es sich um eine Besorgung, obschon mir nichts Gutes schwante. Der Sicherheit halber wollte ich beim feierlichen Gang durchs ungewohnte Haupttor meinen Gugelhupf retten und bat daher den aus der Pforte schauenden Jugendkameraden, er möge meine Schultasche in die Abteilung tragen. Ein ruhiges "Nimm deine Schultasche nur mit" zertrümmerte auch diesen Rettungsanker. So wuchs die Lage zu immer misslicheren Formen. Von meinem Weg- und Kampfgenossen wusste ich nichts und ahnte nicht einmal, daß ihn die rächende Nemesis schon ereilt hatte und das Damoklesschwert seiner Offenbarungen schon über mir hing. Im Büro des Herrn Direktors angelangt, stellte der bemerkenswert ruhige Vater an mich die Frage: "Wo warst Du?" Meine prompte verzweifelte Antwort lautete: "In der Schule". Das war selbst dem verständnisvollen Vaterherzen unseres Direktors zu viel an Unverfrorenheit. Aber mir will noch heute scheinen, als habe auch in dieser Stunde noch eine besondere Sympathie vor einer bitteren Katastrophe mich bewahrt. Mit tiefem Ernst, der mich wirklich seelisch erschütterte, sagte mir der Gütige: "Also auch Du lügst so unverschämt. Zeige mir Deine Schultasche." Alsbald lag das Corpus delicti, der Gugelhupf wahrheitskündend auf dem Schreibtisch und nahm von mir Abschied. "Geh mir aus den Augen; mein Vertrauen hast zu verscherzt" sprach voll innerer Entrüstung der Anstaltsvater. Dieses Wort schmerzte tief und wirkte nachhaltiger als sechs wohlverdiente Streiche auf den Hintern, denen ich zwar damit entrann, die mir aber doch lieber gewesen wären. Die Lüge und der mangelnde Mut, sowie das verlorene Vertrauen brannte lange schmachvoll in der Seele. Bedrückt standen wir vor der glücklichen Tatsache, daß der Umfang unserer Schuld nur für den betreffenden Freitag offenbar geworden war, nicht aber unsere Stundenplanfälschung das ganze Jahr hindurch. Schrecklich quälte die Angst, es könne die Offenbarung des wahren Sachverhalts zu einer strafweisen Entlassung aus der Anstalt und damit auch zum Ende der Studiumsmöglichkeit führen und so mußten wir, trotz des entzogenen Vertrauens, für den Rest des Schuljahres den Schwindel der Mathematikstunde am Freitag von 3 - 4 Uhr fortführen, um nach unserer Meinung größeres Unheil zu verhüten. Wir machten zwar keine Stadtpatrouillen mehr, sondern spielten auf der Narrenhauswiese, um wenigstens unser Gewissen etwas zu beruhigen, da eine Spielstunde von der Schule aus gern gesehen wurde. Endlich ging auch dieses Jahr zu Ende und damit auch die Qual um die Entgleisung der ersten Flegeljahre.