Nach einer knapp zweijährigen Planungsphase konnte mit dem Bau schon im Frühjahr 1960 begonnen, und bereits am 27. September 1960 das Richtfest gefeiert werden. Umzug in das neue Heim Am 8. März 1962 war es dann soweit - die Kinder und Jugendlichen des ehemaligen Kinderasyls an der Hochstraße, konnten in das neue Münchner Kindl-Heim an der Oberbiberger Straße einziehen.
Es waren genau 201 Buben und Mädchen, die im - wie es der "Münchner Merkur" in seiner Ausgabe vom 14. März 1962 bezeichnete, "schönsten Heim Deutschlands", ein Ersatz-Zuhause fanden. In dem aus insgesamt sechs zusammenhängenden Baukörpern bestehenden Komplex waren 16 Gruppenwohnungen, verteilt auf drei 3-stöckige Häuser, untergebracht. Elf Wohnungen waren als sog. ,Familiengruppen' konzipiert mit Platz für jeweils 13 Kinder und Jugendliche. Drei Wohnungen galten als sog. ,heilpädagogische Gruppen' mit jeweils 10 Plätzen, auch sie hatten eine ,familienähnliche' Struktur. Hinzu kamen noch je eine Lehrlingsgruppe für männliche und weibliche Lehrlinge mit jeweils 14 Plätzen. Innerhalb der etwa 250 qm großen, abgeschlossenen Wohnungen, befanden sich 4 kombinierte Wohn- und Schlafzimmer für die Kinder und Jugendlichen (Mehrbettzimmer), 2 Erzieherinnenzimmer, ein großer Wohnraum mit Essecke, eine Küche, 2 Waschräume mit Bad und Duschen, außerdem verfügte jede Wohnung über einen großen Balkon. Die beiden Lehrlingsgruppen waren mit Einzelzimmern ausgestattet. Alle Wohnungen waren sehr geschmackvoll, allerdings mit einheitlicher Möblierung, eingerichtet. In kurzer Zeit entstand jedoch mit schöpferischer Phantasie, mit selbstgemalten Bildern und Werkarbeiten der Kinder und Jugendlichen, eine ausgesprochen persönliche Atmosphäre, in der sich die Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen sehr wohl fühlten. Die stark verwohnte Einheitsmöblierung der Gruppenwohnungen wurde Mitte der 70er Jahre erstmals durch neue Möbel, die von den Gruppen selbst ausgewählt wurden, ersetzt. So hatte jetzt auch von der Ausstattung her jede Gruppe ihr eigenes Gesicht. Einerseits genossen nun alle das relativ ungestörte Zusammenleben in den im Vergleich zum alten Heim an der Hochstraße so viel kleineren Gruppen, die Möglichkeit des Rückzugs ins eigene Zimmer, in einen ganz privaten Bereich und gelegentlich auch einmal die Möglichkeit des Alleinseins; andererseits war aber auch von Anfang an der Wunsch spürbar, über die eigene Gruppe hinaus, zu alten Freunden aus den großen Gruppen des ehemaligen Heims, Kontakt aufzunehmen. Durch die bauliche Anordnung der drei Gruppenhäuser, die untereinander mit Spielgängen verbunden waren, wurde eine Isolierung der einzelnen Gruppen schon von Anfang an verhindert. Dieses bauliche Konzept kam - im Gegensatz zu einer Bungalow-Siedlung, die bei der Planung des Heims auch im Gespräch war - außerdem auch der tatsächlichen Wohnsituation der Kinder und Jugendlichen vor und nach ihrem Heimaufenthalt näher.
Das Miteinander der Kinder und Jugendlichen zwischen den einzelnen Gruppen war also von Anfang an gegeben und hat sich bis heute erhalten. Man besuchte sich gegenseitig, traf sich zum Spiel und Sport, zum ,Ratschen' oder auch zum ,Blödsinnmachen'.
Neben den Gruppenbeschäftigungen und -unternehmungen gab und gibt es seit Beginn des Einzugs viele Freizeitangebote durch gruppenübergreifende Fachkräfte. Besonders die Angebote der Beschäftigungstherapie und des Werkens haben, neben Sport und Musik, seit je her einen hohen Stellenwert im Münchner Kindl-Heim. Hierfür sind die für die damalige Zeit großzügig ausgestatteten Räumlichkeiten, nämlich ein Turn- und Festsaal, ein Musikzimmer und mehrere Therapie- und Werkräume vorhanden.
Auch das weitflächige Heimgelände ermöglicht bis zum heutigen Tag viele Arten des Spiels und der sportlichen Betätigung: Neben einem Rodelberg und großen Spielwiesen steht den Kindern und Jugendlichen seit dem Jahre 1966 ein Sportplatz, mit der Möglichkeit zum Fußball-, Handball-, Basketball-, Volleyball- und Tennisspielen zur Verfügung.
Mit Hilfe einer großzügigen Spende konnte im Jahre 1974 außerdem ein Schwimmbad fertiggestellt werden. Der unmittelbar ans Heim angrenzende Forst bietet nach wie vor Gelegenheit zu Spaziergängen und kleinen Wanderungen. Etwas verspätet, im Jahre 1964, wurde der Kindergarten, der bei der Eröffnung des neuen Heims noch im Rohbau war, fertiggestellt. Ihn besuchten teilweise bis zu 25 Kinder. Im Jahre 1970 wurde innerhalb des Heims noch ein zusätzlicher Vorschulkindergarten eingerichtet, in dem die 5- und 6-Jährigen vor Schuleintritt gezielt, nach den Grundsätzen Maria Montessoris, gefördert wurden. Als jedoch im Laufe der Jahre immer weniger Vorschulkinder ins Münchner Kindl-Heim kamen, wurde dieser im Sommer 1980 wieder aufgelöst. Den Kindergarten übernahm im Herbst 1982 das Schulreferat, sei dieser Zeit wird er als öffentlicher Kindergarten weitergeführt. Innerhalb des Heims befanden sich neben der Krankenstation, der Großküche, Nähstube, Schneiderei sowie der Waschküche auch ein Konferenz- und Kaminzimmer, Personalwohnungen, Verwaltungsbüros, die Bibliothek, ein Partykeller, ein Fotolabor, eine Werkstatt für den Hausmeister und ein Raum für den Gärtner. Betreut wurde jede Gruppe, wie auch zuvor im ehemaligen Kinderasyl, nach wie vor von nur einer Erzieherin. Allerdings stand ihr nun keine Pflegerin mehr zur Seite, da die ehemaligen Pflegerinnen im neuen Heim in den zentralen hauswirtschaftlichen Bereich eingebunden wurden. Dafür stand jetzt jeweils zwei Gruppen eine Roulierkraft zur Verfügung, die die Erzieherinnen während ihres Urlaubs, ihrer freien Tage oder bei Krankheit vertrat sowie zeitweise Praktikantinnen und Praktikanten. Was diese Erzieherinnen, die rund um die Uhr in ihrer Gruppe arbeiteten und lebten, geleistet haben, ist für uns heute nur noch schwer nachvollziehbar. Einen Teil ihrer Kraft nahmen sie sicher daher, dass sie sich ganz mit ihrer Gruppe identifizierten und aus diesem ,Einssein' bei allen Schwierigkeiten und Entbehrungen Kraft schöpften. Im Jahre 1966 wurde dann jeder Gruppe die lange geforderte 2. Planstelle zugeschaltet und zwei Jahre später eine zusätzliche Planstelle für Berufspraktikantinnen und Berufspraktikanten geschaffen. Dass die Notwendigkeit einer heilpädagogischen Betreuung schon sehr früh erkannt wurde, geht aus Berichten dieser Zeit hervor. Es war kein Zufall, dass im neuen Heim 3 sog. ,heilpädagogische Gruppen' eingeplant wurden. In diesen kleineren Gruppen sollte die Möglichkeit geschaffen werden, Kinder mit erheblichen Entwicklungsstörungen besonders individuell zu betreuen. Dieses Vorhaben erwies sich jedoch schon nach kurzer Zeit als nicht realisierbar. Zum einen stellte dies für die Erzieherinnen dieser Gruppen, die keine zusätzliche pädagogische oder gar heilpädagogische Ausbildung bzw. keine entsprechende Unterstützung in der Gruppenarbeit hatten, eine enorme Belastung dar, zum anderen zeigte sich, dass solche Sondergruppen im Heim eine gewisse Stigmatisierung erfahren. Es wurde deshalb bereits im Jahre 1964 begonnen, sog. "Problemkinder" auf alle Gruppen des Hauses zu verteilen und dort zu integrieren. Gleichzeitig wurde eine umfangreiche heiminterne Fortbildung für das Erziehungspersonal in Zusammenhang mit der Heckscher Klinik durchgeführt. Durch die ein Jahr später beginnende, sehr enge Zusammenarbeit mit dem ,Alfred-Adler-Institut' (u. a. durch die Einrichtung von Spieltherapiegruppen und Supervision), befasste man sich schon Mitte der 60er Jahre mit einer tiefenpsychologisch orientierten, heilpädagogischen Konzeption, die kontinuierlich zu unserem heutigen heilpädagogischen Heimkonzept hinführte. Maßgeblich beteiligt daran war der ehem. Jugendamtsleiter und Psychotherapeut, Kurt Seelmann, der selbst Schüler von Alfred Adler war, und im Laufe der Jahre zu einem großen Freund und Förderer des Münchner Kindl-Heims wurde. Das neue Münchner Kindl-Heim bot mit den aufgezeigten Möglichkeiten schon damals sehr gute Voraussetzungen für eine unspezifische Milieutherapie, die ergänzt wurde durch pädagogische Maßnahmen einer gezielten Sozial- und Individualerziehung. In regelmäßigen Erzieherkonferenzen, in Besprechungen der Gruppenerziehungskräfte mit der Heimleitung, der Beschäftigungstherapeutin und das Werklehrers, die ausgewählte, besonders förderungsbedürftige Kinder und Jugendliche in einer heilpädagogisch orientierten Beschäftigungstherapie bzw. im Werken betreuten, sowie in Gesprächen mit anderen gruppenübergreifenden Erziehungskräften und einer Psychologin, die stundenweise im Heim mitarbeitete, wurden zusätzliche erzieherische, und ansatzweise, heilpädagogisch-psychologische Hilfen erarbeitet. Dies war insofern erforderlich, da zwar nach wie vor noch viele Kinder und Jugendliche aus dem ehemaligen Kinderasyl im neuen Heim lebten, doch zu den Waisen, Halbwaisen und ,Sozialwaisen' kamen immer mehr Kinder und Jugendliche aus Familien, die aufgrund besonderer wirtschaftlicher und/oder persönlicher Belastungen mit der Erziehung überfordert waren. Viele dieser Kinder und Jugendlichen waren also aufgrund ihrer Vorgeschichte in ihrer Persönlichkeitsentwicklung beeinträchtigt und bedurften dadurch einer speziellen Hilfe und Förderung. Jedes noch so gut geplante Heim musste deshalb stets von Anfang an offen sein für Wandlungen und Verbesserungen. Das Heim war und ist Teil einer Gesellschaft die sich wandelt und immer wieder neue Probleme und Problemfälle schafft. Auf die veränderten gesellschaftlichen und damit auch erzieherischen Anforderungen musste und muss das Heim eine Antwort finden. Lange bevor theoretische Konzepte auf kommunaler oder Landesebene, z. B. die "Heimdifferenzierung", entwickelt, und vor allem verwirklicht wurden, musste sich eine pädagogische Einrichtung wie das Münchner Kindl-Heim, das sich nie als ,Verwahranstalt' verstand, und das allen Kindern und Jugendlichen gerecht werden wollte, mit der neuen Situation theoretisch und praktisch auseinandersetzen und - häufig ohne die personellen Voraussetzungen - helfen. Dies führte sicherlich zu mancher Überforderung und auch im Einzelfall zu manchem Versagen, zumal das Heim stets bereit war, Kinder und Jugendliche aufzunehmen, die woanders keinen Platz mehr fanden. So kam es schließlich dazu, dass im Münchner Kindl-Heim immer mehr Kinder und vor allem Jugendliche, die einer besonderen heilpädagogischen Betreuung bedurften, aufgenommen wurden. Es war deshalb kein Zufall, sondern entsprang einer echten ,Notwendigkeit', dass schon in den 60er, vor allem jedoch in den 70er Jahren, neben selbst entwickelten zusätzlichen Erziehungshilfen (Erstellung und Fortschreibung von Erziehungsplänen, verstärkte heilpädagogische Fortbildung der Erziehungskräfte, Versuch der Schaffung einer heilpädagogischen Gruppenatmosphäre, Einbeziehung aller am Erziehungsprozess Beteiligten) schon frühzeitig Veränderungen und Verbesserungen gefordert wurden. Bereits im Jahre 1969 wurde deshalb, wie aus dem damaligen Verwaltungsbericht hervorgeht, eine Reduzierung der Gruppenstärke von 13 auf 10 Kinder und Jugendliche pro Gruppe sowie die Zuschaltung von zwei sozialpädagogischen bzw. heilpädagogischen Fachkräften und eine psychologische Abklärung der Neuaufnahmen durch die städt. Erziehungsberatungsstellen als dringend notwendig erachtet. Schon kurze Zeit später begann eine intensive und fruchtbare Zusammenarbeit mit der städt. Erziehungsberatungsstelle München-Ost und im Jahre 1973 erfolgte dann die Reduzierung der Gruppenstärke auf 11 Kinder und Jugendliche pro Gruppe, was die Heimleitung allerdings nicht davon abhielt, eine weitere Reduzierung der Gruppenstärke sowie eine Personalzuschaltung zu beantragen. Natürlich wurde keinesfalls übersehen, dass so manche Verbesserung, z. B. die Vermehrung der Bezugspersonen in einer Gruppe, auch wieder neue Probleme schuf. Diese Spannung musste ausgehalten und nach neuen Lösungen gesucht werden. Man war der Meinung, den Kindern und Jugendlichen nicht helfen zu können und die Erziehungskräfte zu frustrieren - was sich wiederum negativ auf die zu Betreuenden auswirkt - wenn man mit einer "überholten" bzw. nicht mehr realisierbaren ,Familienideologie' die Augen vor der Realität verschließt. Zwar bildeten die Kriterien des ,Familienprinzips' weiterhin den äußeren Rahmen der praktischen Arbeit im Heim, und die Bezeichnung ,familienähnlich' wurde nach wie vor angewandt, trotzdem hatte sich im Laufe der Jahre ein Strukturwandel vollzogen, der sich etwa folgendermaßen darstellte: Aus den heimatlosen, unversorgten und unverwahrten Kindern und Jugendlichen wurden zunehmend verhaltensauffällige, emotional geschädigte Kinder und Jugendliche. Da sich die Zahl der Erzieherinnen und Erzieher pro Gruppe inzwischen auf drei erhöht hatte, war deren Lebensort, im Vergleich zu früher bei nur einer Erzieherin, nicht mehr identisch mit dem der Kinder und Jugendlichen. Bis Ende der 60er Jahre verstanden sich viele Erzieherinnen als ,Gruppenmütter', die mit ihren Kindern eine ,Ersatzfamilie' bildeten. Diese stark emotional geprägte Gemeinschaft setzte voraus, dass sich die Erzieherin mit ihrer Familiengruppe voll identifizierte und weitgehend auf ein Privatleben verzichtete. Da sich die "pädagogische Bedarfslage" aufgrund der neuen Klientel - für die das so intensive mütterliche Umsorgtwerden nicht nur nicht mehr ausreichte, sondern für die es teilweise sogar "kontraindiziert" war - jedoch zunehmend änderte, wurde von den Erzieherinnen und Erziehern eine immer mehr reflektierende und planende Erziehungsarbeit gefordert. Doch diesen professionellen pädagogischen Ansprüchen, verbunden mit den berechtigten arbeits- und tarifrechtlichen Forderungen der Erzieherinnen und Erzieher, konnte nur noch ein Erzieherteam mit vier Erziehungskräften genügen. Im September 1978 erfolgte deshalb im Münchner Kindl-Heim die Zuschaltung der 4. Erziehungskraft pro Gruppe. Dem damaligen heilpädagogisch- orientierten Charakter des Heims wurde schon im Jahre 1975, durch die Anstellung einer Heilpädagogin im gruppenübergreifenden Bereich, Rechnung getragen. Als wichtiger Bestandteil innerhalb des Erziehungsprozesses wurde bereits sehr früh auch die Bedeutung von ,Außenkontakten' erkannt. Durch den Umzug von der Hochstraße in die Oberbiberger Straße und den für die Schülerinnen und Schüler des Münchner Kindl-Heims damit verbundenen Orts- und Schulwechsel, wurden bisherige Kontakte und Freundschaften meist abgebrochen und neue Beziehungen mussten aufgebaut werden. Dies war in der neuen Umgebung allerdings besonders schwierig. Einerseits wurde nämlich im neuen Heim sehr viel geboten und jeder und jede konnte einen Freund oder eine Freundin finden, andererseits bestanden bei einem großen Teil der Nachbarschaft starke Vorurteile gegenüber dem Heim. Auch die spezifische Bevölkerungsstruktur Harlachings erschwerte das Zustandekommen von Außenkontakten. Die Erziehungskräfte und die Heimleitung mussten kräftig mithelfen, um z. B. Vorurteile bei den Eltern von Mitschülerinnen und Mitschülern abzubauen. Im Laufe der Jahre kam es aber dann mit tatkräftiger Unterstützung des Elternbeirats, dem auch die Heimleitung angehörte, zu vielen dauerhaften Schulfreundschaften. Um jedoch die Beziehungen nicht einseitig werden zu lassen, kamen die Freunde und Freundinnen von außerhalb natürlich auch in die Gruppen und nahmen an den verschiedensten Aktivitäten im Heim teil. Dadurch konnten Vorurteile gegen Heim und ,Heimkinder' abgebaut werden und die Kinder und Jugendlichen des Heims waren stolz, ihr so schönes Zuhause mit den vielen Freizeitmöglichkeiten, ihren Freunden und Freundinnen zeigen zu können. Ein anderer Ansatzpunkt für Außenkontakte waren Sportvereine und Jugendgruppen. Doch mit den Erziehungsschwierigkeiten im Heim nahmen auch die schulischen Probleme zu. Zeitweilig wurde von den Schulen die weitere Aufnahme von Kindern und Jugendlichen des Heims in Frage gestellt, immer mehr Schüler wurden an die Sondervolksschule für Erziehungsschwierige überwiesen. Die Zusammenballung besonders schwieriger Schüler, die Stigmatisierung durch das Aussondern aus der ,Normalschule' und der weite Schulweg verstärkten jedoch die Erziehungsschwierigkeiten. Die Heimleitung versuchte in vielen Gesprächen mit der Regierung von Oberbayern und dem staatl. Schulamt zu erreichen, dass die Schulen, die von den Kindern und Jugendlichen des Münchner Kindl-Heims besucht wurden, einen "Sonder-Status" (geringere Klassenstärke, zusätzliche Lehrkräfte für eine Sonderförderung, um die Integration in die Klassen zu erleichtern) erhalten. Leider blieben diese Bemühungen erfolglos, doch die Situation der Schülerinnen und Schüler des Heims konnte letztendlich trotzdem verbessert werden. Durch einen ganz
intensiven Kontakt mit den Lehrkräften und den Schulleitungen, durch die Lehrer-Erziehergesprächsrunden und gemeinsame Fortbildungsveranstaltungen konnte erreicht werden, dass die Kinder und Jugendlichen des Heims in den Schulen wieder angenommen und integriert wurden. Wie schon erwähnt, hatte sich die Aufgabe des Heims inzwischen immer mehr auf die Fälle verschoben, in denen zwar die Eltern der Kinder und Jugendlichen noch lebten, aus unterschiedlichen Gründen aber nicht in der Lage waren, die Erziehung oder das ,Wohl' der Kinder und Jugendlichen zu gewährleisten. So war der zeitlich begrenzte oder dauernde Erziehungsausfall der Eltern immer häufiger der wesentliche Grund für die Heimaufnahme. Die Aufrechterhaltung der Verbindung zu ihnen wurde deshalb schon damals als besonders wichtig angesehen. Im Rahmen einer ,Elternarbeit' wurden sie erzieherisch beraten, man bot ihnen Hilfen an und führte auch, falls erforderlich, im Interesse der Kinder und Jugendlichen die notwendigen Auseinandersetzungen mit ihnen. Um sowohl den Kindern und Jugendlichen, als auch deren Eltern bzw. Angehörigen die Möglichkeit zu bieten, weiterhin regelmäßig miteinander in Verbindung zu bleiben, wurden die 14-tägigen sog. ,Ausgangswochenenden' eingeführt. Dadurch wurde der ,familien-ergänzende' Aspekt der Einrichtung besonders hervorgehoben. Als Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre unter dem Motto "Holt die Kinder aus den Heimen", die sog. ,antiautoritäre Bewegung' sich der Heimerziehung ,annahm' entstanden auch im Münchner Kindl-Heim teilweise heftige interne Fachdiskussionen. Doch durch die Rückbesinnung auf das, was sich in einer langen Heimtradition bewährt hat, blieb man letztendlich auf dem Boden der Realität - und trotzdem bot das Heim den antiautoritären Aktivisten, die fast ausschließlich außerhalb des Heims standen und die Heime insgesamt abschaffen wollten, wenig Angriffsflächen. Es ist deshalb in diesem Zusammenhang wichtig darauf hinzuweisen, was zu dieser langen Heimtradition gehört. Zuallererst die liberalen Grundgedanken aus der Gründungszeit, die man stets lebendig zu halten versuchte und versucht - im übrigen auch, obwohl nur bruchstückhaft möglich - durch diese Festschrift. Durch diese ein Jahrhundert alte Tradition wurde und wird die Atmosphäre und der Geist des Hauses mitbestimmt. Hinzu kommt die schon seit fast 30 Jahren praktizierte große Selbstständigkeit der Gruppen. Es wird stets weiter versucht, durch mehr Mit- und Selbstverantwortung für die Erzieherinnen und Erzieher auch die Selbstständigkeit laufend zu vergrößern. Diesem Bemühen sind allerdings manchmal noch institutionelle Grenzen gesetzt. Im Jahre 1970 wurde der "Heimrat" gegründet, ein Mitbestimmungsgremium, in dem Kinder, Jugendliche und Erziehungskräfte aus allen Gruppen zusammen mit der Heimleitung, alle die Kinder und Jugendlichen bzw. das Heim betreffenden Probleme besprechen und gemeinsam demokratische Beschlüsse schaffen. Im Jahre 1974 wurden sog. "Hausbesprechungen" eingeführt, um den Erfahrungsaustausch der Erziehungskräfte untereinander zu fördern bzw. interne Fortbildungen durchzuführen. Seit 1963 gibt es auch eine Reihe von inzwischen schon traditionellen "Fixpunkten" im Heimleben, die wie ein Gerüst im Jahresablauf sind. Es sind dies der Wandertag, das Sportfest, das Sommerfest, die große Heimweihnachtsfeier sowie die alle zwei Jahre stattfindende Begegnung mit ,Ehemaligen' aller Generationen, das "Ehemaligentreffen".
Innerhalb der Gruppen gehören die Feiern und Feste an Geburtstagen, an Fasching, Nikolaus und Weihnachten sowie der wöchentliche Gruppenabend zu festen Bestandteilen. Aber auch Wochenend- und Ferienunternehmungen hatten und haben schon seit jeher einen hohen Stellenwert innerhalb des Gruppenlebens. Vor 1950 erstreckten sich die Gruppenunternehmungen und Ferienmaßnahmen hauptsächlich auf Badeausflüge, Eislaufen, Erkundung der näheren Umgebung Münchens und Ferienaufenthalte auf dem städt. Gut Karlshof.
In der Nachkriegszeit war dann die "Kasperlmühle" bei Weyarn, die, wie bereits erwähnt, seit 1945 eine Außenstelle des Münchner Kindl-Heims war, und in der mittlerweile 35 Kinder lebten, ein häufig frequentiertes Ferienziel. In diesem, von der damaligen Heimleiterin sehr familiär geführten Heim, fühlten sich die Münchner Kinder während der Ferien besonders wohl. Nachdem jedoch Anfang der 70er Jahre ein großes Überangebot an Heimplätzen bestand, und die Nachfrage einige Jahre lang sehr gering war, wurde die Kasperlmühle im September 1976 geschlossen. Seither ist darin ein Schullandheim untergebracht. Für die Jugendlichen des Heims begann mit der Nachkriegszeit die Zeit der Radltouren und der Zeltlager - diese Art der Feriengestaltung hat sich bis zum heutigen Tag erhalten. Aber auch Skifahren und Wandern, bis hin zum Bergsteigen, haben im Münchner Kindl-Heim eine lange Tradition. Schon sehr früh wurde der ,erlebnispädagogische' Wert vieler Freizeitmaßnahmen erkannt und genutzt. Ob im Bayerischen Wald, in den Bergen des Voralpengebietes oder auf einer Hütte in der Wildschönau, überall erlebten die Kinder und Jugendlichen sehr schöne Ferien. Auch der inzwischen schon sehr bekannte Fernwanderweg "München-Venedig", wurde bereits im Jahre 1978 von einer Gruppe Kinder und Jugendlicher des Heims zu Fuß zurückgelegt und dadurch zu einem unvergesslichen Erlebnis.
In den Jahren 1960-1970 stand den Kindern und Jugendlichen auch eine Ferienhütte in Aurach, in der Nähe von Bayrischzell, zur Verfügung. Der Verein "Freunde des Münchner Kindl-Heims e.V." konnte langfristig einen ehemaligen Schweinestall mieten, der von den Jugendlichen des Heims in unzähligen Arbeitsstunden zu einer gemütlichen Ferienhütte umgebaut wurde. Diese Hütte, in der die Kinder und Jugendlichen unvergessliche Ferientage verbrachten, brannte leider im Jahre 1970 ab.
Seit 1976 steht den Kindern und Jugendlichen des Münchner Kindl-Heims jedoch erneut ein Ferienquartier zur Verfügung. Nur wenige Kilometer von der abgebrannten Hütte entfernt, hat derselbe Verein, überwiegend aus Spendenmitteln, ein eigenes Ferienhaus erbaut. Ein Teil der Spendenmittel des Vereins fließt auch verschiedenen Freizeit- und Ferienmaßnahmen zu, denn gerade sie sind ein wichtiges Element der Gruppenpädagogik. Die dort gemeinsam gewonnenen Erlebnisse prägen die Prozesse des Miteinander in der Gruppe und wirken sich anhaltend auf den Interaktionsprozess der Gruppe aus. Allerdings soll in diesem Zusammenhang auch nicht vergessen werden, dass der Ferienaustausch bzw. die Begegnungen mit Kindern und Jugendlichen aus verschiedenen Heimen Deutschlands sowie der Schweiz, Polen, Ungarn und der Ukraine, in der Vergangenheit zu vielen Freundschaften und Verbindungen außerhalb des Heims geführt hat. Anfang 1972 wurde auch im Münchner Kindl-Heim der "kostendeckende Pflegesatz" eingeführt. Bis zu diesem Zeitpunkt arbeitete das Heim auf der Grundlage eines ,fiktiven' Pflegesatzes, d.h., das Betriebsdefizit des Heims wurde durch einen Zuschuss der Landeshauptstadt München am Jahresende ausgeglichen. Damit wurde eine bis zum heutigen Tag anhaltende Diskussion in Gang gesetzt, die den Pflegesatz zu einem Hauptargument für die Gegner der Heimerziehung werden ließ, so dass er seit dieser Zeit wie ein "Damoklesschwert" ständig über den Heimen hängt. Dabei wird leider viel zu häufig übersehen, dass viele der Kinder und Jugendlichen für andere Maßnahmen aus familiären, persönlichkeitsbedingten oder Altersgründen nicht in Frage kommen. Tatsache ist auch, dass die Kinder und Jugendlichen vor der Heimaufnahme heute in der Regel mehrere Stationen im Rahmen der Hilfemaßnahmen durchlaufen als früher - doch viel zu selten wird gefragt, wie viele, welche und wie erfolgreich die verschiedenen ambulanten Dienste oder Hilfemaßnahmen vor der Heimeinweisung eingesetzt waren, auch die Kostenfrage wird dabei häufig nicht gestellt. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Heim leisten an allen Tagen des Jahres ganzheitliche Hilfe rund um die Uhr, denn Heimerziehung muss die Familie zeitweise ersetzen, alle ambulanten Dienste ergänzen die Familienarbeit nur. Deshalb sind die Leistungen des Heims für die Betroffenen existenzielle Hilfen. Das Hilfsangebot Heimerziehung muss deshalb innerhalb der Kinder- und Jugendhilfe neben den anderen Maßnahmen eine gleichwertige Rolle spielen, denn man kann weder auf die ambulanten Dienste, noch auf die Heimerziehung verzichten. Allerdings sollte man auch für die Hilfsmaßnahme Heimerziehung genau die gleichen Maßstäbe ansetzen: ohne Kostendruck und ohne Erfolgszwang. Durch die Unterstützung des Vereins "Freunde des Münchner Kindl-Heims e.V.", konnten im Jahre 1974 Zimmer und Wohnungen für ältere Jugendliche bzw. junge Erwachsene, die kurz vor dem Heimaustritt standen, angemietet werden. Eine bis dahin häufig praktizierte Verlegung in Lehrlingswohnheime entfiel dadurch, und der im Heim begonnene Verselbstständigungsprozess wird seit dieser Zeit in Form des "Betreuten Wohnens" weitergeführt bzw. abgeschlossen. Diese realitätsbezogene Betreuungsform in dezentralen Wohneinheiten außerhalb des Heims, ist seit dieser Zeit in das Hilfeangebot des Münchner Kindl-Heims integriert. Die bereits Anfang der 70er Jahre angestellten Überlegungen bezüglich einer Umstrukturierung in ein heilpädagogisches Heim, fanden im Jahre 1981 ihren Abschluss. Die Vollversammlung des Stadtrates der Landeshauptstadt München stimmte am 1.7.1981 der Umstrukturierung zu. Dadurch wurden viele, schon in den vorausgegangenen Jahren konzeptionell entwickelte und bereits - allerdings unter erschwerten Bedingungen - praktizierte heilpädagogische Hilfemaßnahmen bzw. -angebote, festgeschrieben. Die Beifügung "heilpädagogisch" wird dabei in der Weise verwandt, als mit ihr institutionelle bzw. erzieherische Hilfen bei besonderen individuellen Schwierigkeiten von Kindern und Jugendlichen gemeint sind. In die heimpädagogische Praxis übersetzt bedeutet dies, dass das Heim aufgrund der Probleme, Defizite und Entwicklungsbeeinträchtigungen der in ihm betreuten Kinder und Jugendlichen über entsprechende Hilfemöglichkeiten verfügen muss. Im Zuge einer inneren Differenzierung entstanden so neben den familienähnlichen, altersheterogenen Gruppen auch altershomogene Gruppen für ältere Schülerinnen, Schüler und Lehrlinge, sowie wirtschaftlich sich selbstverpflegende Jugendwohngemeinschaften für nicht mehr Schulpflichtige und Lehrlinge. Ein heilpädagogisch-psychologisches Fachteam (bestehend aus 3 Heilpädagoginnen und 1 Psychologin), das regelmäßig in Beratungsgesprächen den Erzieherinnen und Erziehern Gruppenprozesse transparent macht, sie bei der positiven Veränderung von Gruppenstrukturen und bei der Erstellung von Gruppen- und Einzelerziehungsplänen unterstützt, und außerdem bei der Schaffung einer heilpädagogischen Gruppenatmosphäre mitwirkt, wurde zugeschaltet. Ein Sozialpädagoge übernimmt seit dieser Zeit schul- und freizeitpädagogische Aufgaben sowie die Nachbetreuung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen nach deren Austritt aus dem Heim. Der Leistungsstress unserer Gesellschaft und die zunehmende Jugendgefährdung durch Umwelteinflüsse, bewirken ein vermehrtes Fehlverhalten von Kindern und Jugendlichen, seelische Störungen und größere Erziehungsschwierigkeiten. In vielen Fällen sind bei diesen Schwierigkeiten ambulante Maßnahmen nicht indiziert bzw. haben keinen Erfolg gebracht, so dass eine Unterbringung im Heim angezeigt war. So weisen auch die meisten der bei uns untergebrachten Kinder und Jugendlichen Verhaltensauffälligkeiten auf, und ihre Eltern waren und sind mit den notwendigen bzw. gewünschten Veränderungen der Auffälligkeiten teilweise überfordert. Der Elternarbeit kommt vor diesem Hintergrund deshalb weiterhin eine große Bedeutung zu. Durch werk- und beschäftigungstherapeutische, sportliche und musische Angebote wird versucht, vielfältige Anregungen zu vermitteln, um die Kinder und Jugendlichen zu einem konstruktiven Freizeitverhalten anzuleiten. Der Schul-, besonders jedoch der Berufsausbildung, wird nach wie vor ein großes Gewicht beigemessen. Dadurch, dass immer mehr ältere Kinder und Jugendliche ins Münchner Kindl-Heim kamen und kommen, wird unsere heilpädagogische Arbeit zunehmend von gruppenpädagogischen Ansätzen bestimmt. Gleichzeitig wird jedoch versucht, eine möglichst persönlich- familienorientierte Gruppenatmosphäre zu schaffen bzw. zu erhalten. Der Wandel, vom ehemaligen Kinderasyl zum heilpädagogischen Heim, hat sich, wie diese Aufzeichnungen zeigen, kontinuierlich - gesellschaftlichen Gegebenheiten sowie pädagogischen Notwendigkeiten anpassend -vollzogen. Doch trotz der sich wandelnden Aufgaben ist sehr viel konstant geblieben. Vor allem hat sich der liberale Geist der Gründerväter über ein Jahrhundert erhalten, und das Heim hat dadurch seine Identität bewahrt. Der sozialen Weitsicht und dem sozialen Engagement der Gründerväter verdanken wir, dass besonders ein Satz aus den Ausführungen zum Gründungsbeschluss von 1891, die aktuelle Situation erfasst. Er heißt, dass "Kinder ohne konfessionelle Grenzen im städt. Kinderasyl Aufnahme finden sollen". Heute ist das Münchner Kindl-Heim nicht nur ein überkonfessionelles Heim, in dem Christen, Muslime, Hindus und Buddhisten, sondern auch ein übernationales Heim, in dem Kinder und Jugendliche aus rund 20 Nationen - aus den verschiedensten Krisengebieten der Welt - friedlich zusammenleben und eine hoffnungsvolle Zukunft versprechen. Dem inzwischen etwas verpönten alten Namen ,Kinderasyl' wurde dadurch wieder eine neue, positive Bedeutung verliehen, und der Kreis der 100jährigen Geschichte des Heims geschlossen.
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