Die Geschichte von der Gründung bis zur Gegenwart Vom Städtischen Kinderasyl zum Münchner Kindl-Heim
Diese Festschrift zum 100. Geburtstag des Münchner Kindl-Heims, des ehemaligen Städtischen Kinderasyls, soll einen geschichtlichen Überblick vom "Beschluss des Magistrats und des Gemeindebevollmächtigtenkollegiums der kgl. Haupt- und Residenzstadt München über die Gründung eines Asyls für hilfs-, pflege- und erziehungsbedürftige Kinder" vom 2. März 1871 und von der eigentlichen Geburtsstunde des städt. Kinderasyls am 1. September 1892, bis zum Jubiläumstag im Jahre 1992 geben. Wir versuchen aufzuzeigen, was sich in diesen einhundert Jahren äußerlich und innerlich, organisatorisch und pädagogisch verändert hat. Wir werden dabei jedoch feststellen, dass bei allem Wandel sehr viel konstant geblieben ist, und es nur in einer der jeweiligen geschichtlichen Epoche entsprechenden Form und Sprache erscheint. Dass diese Tradition nicht nur auf dem Papier steht, sondern auch als ein Stück pädagogische Kontinuität im Münchner Kindl-Heim weiterlebt, dazu trugen und tragen nicht zuletzt die seit 1963 regelmäßig stattfindenden "Ehemaligentreffen" bei, bei denen nicht nur Erinnerung und Geselligkeit gepflegt werden. Vielmehr findet dabei eine für uns heutige Pädagoginnen und Pädagogen wichtige menschliche Begegnung und ein interessanter pädagogischer Erfahrungsaustausch zwischen den Generationen statt, zumal zu den ersten Treffen noch Ehemalige aus der "Gründerzeit" kamen. Aus den so ganz persönlichen Berichten und Erzählungen der Ehemaligen, und aus den uns zum Teil vom Stadtarchiv zur Verfügung gestellten schriftlichen Dokumenten, können wir uns ein sehr gutes Bild davon machen, was das städt. Kinderasyl und das Münchner Kindl-Heim einst war und wie es sich zu dem entwickelt hat, was es heute ist. Ist es vermessen zu sagen, dass es seine Identität weitgehend bewahrt hat? Wir hoffen, dass die folgenden "Schwerpunkte" und der geschichtliche Überblick darauf eine Antwort geben können. Der soziale Weitblick und das soziale Engagement der Münchner Stadtväter, der Münchner Bürgerinnen und Bürger und der Mitarbeiterschaft des Heims ist von der Gründung bis heute, bis zu den segensreichen Aktivitäten des Vereins "Freunde des Münchner Kindl-Heims e.V.", der im Jahre 1992 sein 35jähriges Bestehen feiert, erhalten geblieben. Ein weiteres Charakteristikum des Münchner Kindl-Heims ist seine allgemein bekannte Liberalität. Schon in den Ausführungen zum Gründungsbeschluss aus dem Jahre 1891 steht, dass "Kinder ohne konfessionelle Grenzen im städt. Kinderasyl Aufnahme finden sollen". Heute ist das Münchner Kindl-Heim nicht nur ein überkonfessionelles, sondern auch ein übernationales Heim, in dem Kinder und Jugendliche aus rund 20 Nationen - aus den verschiedensten Krisengebieten der Welt - friedlich zusammenleben. Der etwas verpönte alte Name "Kinderasyl" hat wieder eine neue positive Bedeutung erhalten. Aber nicht nur die Kinder und Jugendlichen, auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter schätzen den liberalen Geist des Hauses. Eine nicht nach Geschlechtern getrennte Unterbringung der Kinder war nach dem Statut von 1891 im städt. Kinderasyl schon vom ersten Tag an möglich - wenn auch vorerst nur innerhalb des Hauses, so hat sich dies im Laufe der Jahre doch weiterentwickelt. Der darin sich äußernde Weitblick zeigt sich in der Tatsache, dass das städt. Kinderasyl von Anfang an keine sog. "Anstalt", sondern ein "Heim" im eigentlichen Sinn dieses Wortes sein sollte. Schon nach den Gründungsbeschlüssen und nach einem Bericht zum 25jährigen Bestehen aus dem Jahre 1917 ist es die Aufgabe des städt. Kinderasyls, die "häusliche Erziehung nach Möglichkeit zu ersetzen" und das "Band der Liebe soll Leiter und Pfleglinge verbinden", es sollte den "verlassenen Kriegswaisen ein trautes Heim werden". Und viele Jahre vor der offiziellen Einführung der sog. "Familiengruppen" wird in einem Bericht aus dem Jahre 1937 - entgegen der damaligen Ideologie - von einem "familiär geführten Hause" gesprochen und der Verwaltungsbericht für das Jahr 1938/39 enthält de facto schon die Indikation für die Aufnahme in ein heilpädagogisches Heim, die fast heute noch Gültigkeit hat: "Nahezu alle Kinder sind durch den Tod der Eltern, durch Zerfall der Familie oder Vernachlässigung der Erziehung, durch die Unmöglichkeit bei der unverheirateten Mutter zu wohnen in ihrem Gemüt und in ihrem Charakter geschädigt. Auch die unbeschwerte Kindesnatur braucht eine gewisse Zeit, bis sie über die Schicksalsschläge des Lebens, die meist viel trauriger empfunden werden als die Erwachsenen annehmen, hinweg kommt und ruhig und aufnahmebereit wird." In dem Bericht aus dem Jahre 1917 zum 25jährigen Jubiläum wird von der Notwendigkeit einer "Nachbetreuung" der aus dem Heim Entlassenen gesprochen. Über 60 Jahre vor der Aufnahme der Nachbetreuung in das offizielle heilpädagogische Konzept des Heims können wir lesen, dass "die Erziehung beim Heimaustritt nicht abgeschlossen sein darf", dass man "in Kontakt mit dem Entlassenen bleiben muss", dass diese gerne ins Heim
zurückkehren um sich Rat zu holen, "wenn das Leben oft recht hart an sie herantritt" und dass diese Heimentlassenen auch noch finanziell unterstützt wurden. Ein weiterer Satz aus dem eben erwähnten Bericht soll nicht unerwähnt bleiben, weil er zwei ganz wichtige pädagogische Tugenden anspricht, nämlich eine gewisse Selbstkritik und einen starken menschlichen und erzieherischen Optimismus: "Wenn der eine oder andere Zögling - es sind deren nur wenige - uns draußen im Leben enttäuscht hat, so wird uns das fernerhin nicht hindern, mit großer Freude am Erziehungswerke weiterzuarbeiten, so lang es unsere Kräfte erlauben". All diese oben erwähnten Aussagen und Gedanken stehen sinngemäß auch in unserem heutigen heilpädagogischen Konzept - entscheidend jedoch ist, dass sie im erzieherischen Alltag praktiziert werden. Vielleicht können wir auch das von unseren pädagogischen Müttern und Vätern lernen: dass wir der Theorie nicht ein größeres Gewicht beimessen als der Praxis.   Vom Kinderasyl zum heilpädagogischen Kinder- und Jugendheim Das Kinderasyl, an der Hochstraße 8 in München, war eine durch Beschlüsse beider Gemeindekollegien (Magistrat und Gemeindebevollmächtigte) vom 2. März 1871 und vom 24. September und 30. Oktober 1885 zur Erinnerung an die Beendigung des Deutsch-Französischen Krieges und an König Ludwig I. gegründete, mit Gemeindemitteln und freiwilligen Spenden dotierte Wohltätigkeitsanstalt der Stadt München. Im Protokoll vom 2. März 1871 über die gemeinschaftliche Sitzung der beiden Kollegien der Stadtgemeinde München bezüglich der "Gründung eines Asyls für pflege-, hilfs- und erziehungsbedürftige Kinder" zur Erinnerung an den Friedensschluss lesen wir dazu Folgendes: "Um aus Anlaß des Friedensschlusses ihrer Freude, ihrem Danke und ihren Hoffnungen durch Gründung einer Wohltätigkeitsanstalt Ausdruck zu geben, versammelten sich heute Nachmittags 6 Uhr die Mitglieder beider Gemeindekollegien zu einer gemeinschaftlichen Festsitzung im Sitzungssaale der Herren Gemeindebevollmächtigen." Der damalige l. Bürgermeister der kgl. Haupt- und Residenzstadt München, Herr Dr. Erhardt, beendete seine Festrede mit folgenden Worten: "Es ziehmt sich, ein Fest des Friedens zu feiern und ich bin gewiß, daß die Bevölkerung Münchens gerne bereit wäre, ihrer freudigen Stimmung durch Festzüge, großartigen Häuserschmuck und Illumination Ausdruck zu geben. Allein in solch großen, ernsten und feierlichen Momenten drängt es uns, unserem Danke und unserer Freude einen ernsten Ausdruck zu geben. Wir wollen in dieser feierlichen Stunde ein Werk begründen, das nicht in wenigen Minuten verraucht, das seine segensreichen Wirkungen Jahrhunderte hindurch geltend machen soll - zum Nutzen und Frommen der Stadt und des gemeinen Wohles überhaupt, ein Werk, das nicht bloß uns, sondern allen unseren Nachkommen den Tag des Friedensschlusses in fortwährendem Andenken erhalten soll."  Der in dieser Sitzung einstimmig gefasste Beschluss lautete:  "Es sei zur Feier des Friedensschlusses in hiesiger Stadt ein Asyl zu gründen für hilfs-, pflege- und erziehungsbedürftige Kinder. Bei der Aufnahme in diese Anstalt soll vorzugsweise auf solche hier heimatberechtigte Kinder Rücksicht genommen werden, deren Ernährer in diesem Kriege den Heldentod gestorben sind. Die Stadtgemeinde München bestimmt für diesen Zweck vorläufig eine Summe von hunderttausend Gulden." Der sofortigen Ausführung dieses Beschlusses stellten sich jedoch unvorhergesehene Schwierigkeiten entgegen, dadurch verzögerte sich die Eröffnung des Kinderasyls auf lange Jahre hinaus. Neben der Bauplatzfrage entwickelte sich nämlich die Frage nach der konfessionellen Stellung der Anstalt zu einer langjährigen Streitfrage. Einige Mitglieder des Kollegiums der Gemeindebevollmächtigten forderten, die Leitung des Kinderasyls einem religiösen Orden zu übertragen. Dieser Antrag wurde durch Beschluss der beiden Bürgermeister Dr. Erhardt und Dr. Wiedenmayer abgelehnt. Die Begründung hierfür ist im Sitzungsprotokoll des Magistrats vom 31.Januar 1873 festgehalten:  "Die Kinder, welche in dem Asyle Aufnahme finden werden, sind gleich hilfsbedürftig, ob sie katholisch, protestantisch oder israelitisch sind. Die Aufgabe, ihnen die nötige geistige und körperliche Hilfe zu
bringen, ist keine konfessionelle, sie ist vielmehr eine rein menschliche und eine allgemein sittliche. Zwischen den gemeinschaftlich hilfsbedürftigen Pfleglingen sollen in der Anstalt keine konfessionellen Scheidewände aufgeführt werden. Das Band der Liebe soll die Leiter und Pfleglinge der Anstalt verbinden und letztere zur Tugend heranziehen, welche weder protestantisch, noch katholisch religiös ist, sondern sittlich religiös. Der konfessionellen Richtung ist der genügende Einfluß durch die Kirche und durch den Religionsunterricht der Schule gewahrt. " Dieser Beschluss der beiden Bürgermeister fand am 19. Februar 1873 mit großer Mehrheit die Zustimmung der Gemeindebevollmächtigten. In den folgenden Jahren wurden dem Magistrat eine Reihe von Schenkungen für das zu gründende Kinderasyl zuteil, in denen besonders daraufhingewiesen wurde, dass die Aufnahme von Kindern ohne Rücksicht auf deren Konfession stattzufinden hat. Doch der Einfluss konfessioneller Mächte war sehr groß. Weder diese Hinweise noch der Einspruch einer Minderheit, der auch die beiden Bürgermeister angehörten - festgehalten in einem Separatvotum vom 3. November 1885 - konnten verhindern, dass die beiden Gemeindekollegien in ihren Sitzungen vom 9. und 22. Juli 1886 mit Stimmenmehrheit entgegen ihrem ursprünglichen feierlichen Entschluss beschlossen, zwei konfessionell getrennte Abteilungen für katholische und protestantische Kinder zu errichten. Gleichzeitig wurde beschlossen, mit dem Bau der Anstalt zu beginnen und deshalb weitere namhafte Gemeindemittel für das Kinderasyl bewilligt. Es wurde ein Statut ausgearbeitet das vorsah, die katholischen Kinder in der Hochstraße und die protestantischen Kinder in der Tumblingerstraße unterzubringen, sowie die Leitung der beiden Abteilungen Ordensgesellschaften anzuvertrauen. Die konfessionelle Trennung der Kinder wurde jedoch durch die Beschlüsse der beiden Gemeindekollegien vom 30. Juli und 13. August 1891 wieder außer Kraft gesetzt und dadurch der ursprüngliche Beschluss vom 2. März 1871 wieder hergestellt. Am 15. September 1891 wurde das Statut für das Kinderasyl in seiner endgültigen Fassung von den beiden Gemeindekollegien verabschiedet und im darauffolgenden Jahr war der einem Barockschlösschen ähnliche Bau, in dem sich mittlerweile für die katholischen Kinder eine Hauskapelle und für die protestantischen Kinder ein Betsaal befand, vollendet.
Das städtische Kinderasyl an der Hochstraße wurde am 1. September 1892 eröffnet und mit 140 Kindern belegt. Die Kinder, die bis zur Eröffnung auf Kosten der Armenpflege größtenteils auf dem Land untergebracht waren, wurden in 4 Gruppen zu je 35 Kindern (2 Mädchen- und 2 Knabengruppen) unterteilt. Sie waren nach Altersstufen getrennt und zwar umfassten die beiden sog. "kleinen Abteilungen" die 1. mit der 5. bzw. 6. Klasse und die beiden "großen Abteilungen" die älteren Kinder ab der 6. bzw. 7. Klasse. Jede Abteilung wurde von einer Erzieherin geführt, die durch eine Pflegerin im hauswirtschaftlichen Bereich unterstützt wurde. Neben den 4 Gruppenerzieherinnen und den 4 Gruppenpflegerinnen waren noch 1 Anstaltsleiter, 1 Gesang-, Zeichen- und Turnlehrer, 2 Köchinnen, 1 Hausmeister, 3 Hausmägde, 1 Gärtner für den Obst- und Gemüseanbau sowie ein Schweizer für die Vieh- und Schweinehaltung angestellt.
Über das Leben in der Anstalt gibt uns der 1.Jahresbericht des Kinderasyls vom September 1893 Auskunft:
 "Aufgabe der Anstalt ist es, die häusliche Erziehung nach Möglichkeit zu ersetzen und die Zöglinge zu treuen Kindern ihres Bekenntnisses und zu einfachen, guten und brauchbaren Menschen zu erziehen. Die ausnahmsweise Sorge für eine höhere, wissenschaftliche, künstlerische oder gewerbliche Ausbildung ist im Falle besonderer Begabung nicht ausgeschlossen. (...) Von den 140 im schulpflichtigen Alter stehenden Zöglingen (70 Knaben und 70 Mädchen), gehörten 120 der katholischen und 20 der protestantischen Konfession an.
Es befanden sich darunter 81 Halb- und 18 Vollwaisen, 29 hilflos verlassene und 12 stammen von Eltern, die absolut unfähig sind, ihre Kinder zu erziehen. (...) Nach Schluß des Schuljahres wurden 98 Zöglinge versuchsweise auf 4 Wochen zu den früheren Pflegeeltern und Verwandten in Ferien entlassen. Mit Befriedigung kann konstatiert werden, dass der den Zöglingen gewährte Urlaub ohne jede schädigende Einwirkung auf dieselben und ohne jeden Unfall verlief. Den Kinder wurde hierdurch eine große Freude bereitet und sind dieselben durch die frische Landluft gestärkt und gekräftigt mit neuem Eifer in die Schule eingetreten. (. . .) Der Pflege des religiös-sittlichen Lebens wurde die größte Aufmerksamkeit zugewendet. Das Asyl soll das Elternhaus er setzen. Gleichwie Vater und Mutter die ersten und einflußreichsten Religionslehrer sind, ebenso hat das Asyl als Stellvertreter der Eltern, die heilige Aufgabe, das Glaubensbedürfnis der Kinder, das dieselben als entwicklungsfähige Anlage mit zur Welt bringen, naturgemäß zu entwickeln. Das gute Beispiel der Erzieher wird aber allein nicht genügen, um die Religiosität in der Jugend vollständig zu entwickeln. Es ist deshalb im Asyl Sorge getragen, dass die Zöglinge an den religiösen Übungen im Hause, sowie an den gottesdienstlichen Verrichtungen in den betreffenden Konfessionskirchen so oft als möglich sich beteiligen. Insbesondere wurden die Zöglinge angehalten, beim Morgen- und Abendgebet der Wohltäter des Asyls zu gedenken. (. ..) Die Anstaltsleitung war bestrebt, die Kinder zur Ordnung und Reinlichkeit, Gehorsam und Dankbarkeit, überhaupt zu allem Guten zu erziehen. Sie kann mit dem Erfolge zufrieden sein, denn das Verhalten der Zöglinge verdient nach jeder Richtung Lob. Zur Förderung des Sparsamkeitssinnes und um den Kindern beim Verlassen der Anstalt einen kleinen Zehrpfennig mitgeben zu können, wurden die anfallenden Geldgeschenke bei der städtischen Sparkasse angelegt. (. ..) Eine ganz besondere Sorgfalt wurde dem Handfertigkeitsunterrichte in der Anstalt selbst gewidmet und besuchten außerdem einige Zöglinge die bezüglichen Kurse des Volksbildungsvereins, welcher bereitwilligst teilweisen Nachlaß des Unterrichtshonorares gewährte. Das Interesse für den Obstbau wurde durch Anlage und Pflege einer Baumschule im Anstaltsgarten geweckt und gefördert. 
An schulfreien Nachmittagen wurden die Knaben auch zu leichteren Garten- und die Mädchen zu häuslichen Arbeiten angeleitet. Die Zöglinge erhielten in der Anstalt außer Wohnung und Kleidung auch vollständige Kost und Verpflegung. Das Frühstück bestand in 1/3 Liter gekochter Milch mit Semmel, um 10 Uhr erhielt jedes Kind ein sogenanntes Laibl, mittags, mit Ausnahme der Freitage, täglich eingekochte Fleischsuppe, 110 Gramm Ochsenfleisch, Gemüse und 85 Gramm Roggenbrot, nachmittags 4 Uhr Vesperbrot, im Sommer und Herbst mehrmals hierzu Obst, abends wöchentlich dreimal Milchspeise, viermal Brotsuppe mit kaltem Fleischwarenaufschnitt, Kartoffeln oder Würsten mit Brot. Die Kosten hierfür betrugen per Kopf und Tag 45 Pfennige. Für die Leibesübungen bot der sehr geräumige und herrlich angelegte Anstaltsgarten mit seinen zwei gedeckten Spielhallen und verschiedenen Turngeräten hinreichende und willkommene Gelegenheit zur Veranstaltung von Jugend- und Turnspielen. Außerdem fanden an allen Sonn- und Feiertagen, teils um die Umgebung Münchens kennen zu lernen, teils um den Körper zu stählen und zu kräftigen, ausgedehnte Spaziergänge in die benachbarten Orte, Anlagen und Wälder statt. Zur Pflege der Reinlichkeit nahmen die Zöglinge während der kälteren Jahreszeit alle 3 Wochen ein warmes Wannenbad, im Sommer besuchten die Knaben das städtische Freibad so oft Zeit und Witterung es nur immer gestatteten." Der Bericht endet mit folgenden Worten: "Es kann dieser erste Jahresbericht des städtischen Kinderasyls nicht würdiger geschlossen werden, als dankerfüllten Herzens all derjenigen zu gedenken, welche zum Gelingen des Ganzen durch namhafte Zuwendungen, durch Wohlwollen und opferfreudiges Entgegenkommen so tätigen Anteil genommen. Dieser Dank gilt vor allem und in hervorragendem Maße der Vertretung der Stadt München, welche keine Opfer gescheut hat, armen und verlassenen Kindern ein sorgenfreies Heim zu schaffen, die aber auch jetzt nach Errichtung dieser Stätte der Charitas fortgesetzt ihre werkthätige Liebe derselben zuwendet. Tausendfacher Dank auch den edlen Gönnern und Wohlthätern, der Presse und allen, welche dem Asyle ihre Sympathien geschenkt und dadurch direkt oder indirekt zum Blühen und Gedeihen der Anstalt beigetragen haben. " Im Jahre 1896 errichtete die Stadtgemeinde München in dem aus Mitteln des Oskar Walther'schen Kinderunterstützungsfonds erworbenen früheren Real- Institutsgebäude in Weyarn, Bezirksamt Miesbach, eine Kindererziehungsanstalt als Außenstelle des städt. Kinderasyls an der Hochstraße 8 in München. In ihr fanden 100 Kinder Platz. Vorzugsweise wurden die Kinder aus München, bzw. aus dem städt. Kinderasyl, eingewiesen, deren Gesundheitszustand einen Aufenthalt in einer auf dem Land gelegenen Anstalt besonders erwünscht erscheinen ließ. Diese ,Außenstelle' des Kinderasyls bestand bis zum Jahre 1932, dann wurde sie wegen angeblicher Unrentabilität aufgelöst. Mit der Zeit kristallisierten sich auch im Kinderasyl gewisse pädagogische Schwerpunkte heraus. Große Aufmerksamkeit wurde zwar weiterhin dem religiös- sittlichen Leben der Zöglinge geschenkt, und das Erziehungspersonal war nach wie vor bestrebt, den Zöglingen Gehorsam, Anstand, Ordnung, Dankbarkeit, gewissenhafte Pflichterfüllung und Reinlichkeit anzuerziehen - doch auch Schule und Freizeit, sowie Elternarbeit
und Nachbetreuung gewannen zunehmend an Bedeutung. Im Jahresbericht des Jahres 1908, der im September erschien, lesen wir dazu Folgendes: "Das Benehmen der Kinder in der Schule gab niemals zu einer Klage Anlaß und bekamen sämtliche Zöglinge die Betragensnote 7. Auch im Hause befleißigten sich die Zöglinge einer guten Führung und kamen in diesem Berichtsjahre ernstere Überschreitungen der Hausordnung nicht vor. (.. .) Um mit den Eltern, Vormündern und Anverwandten der Zöglinge in steter Fühlung zu bleiben, fand jeden ersten Sonntag im Monat ein Besuch derselben in der Anstalt statt, wo den Erzieherinnen Gelegenheit geboten wurde, sich nach Notwendigkeit mit denselben auszusprechen oder auch umgekehrt Wünsche entgegenzunehmen. Der Verwaltung gereicht es zur Freude und Befriedigung, feststellen zu können, daß die meisten Angehörigen mit herzlicher Dankbarkeit all des Guten erwähnten, das die Anstalt ihren Kindern bietet und rührend war so manche Dankesbezeugung seitens eines schwerbedrückten Mütterleins für die vielen Wohltaten, die sein Kind im Asyle genießt. (...) Um die Beziehungen zwischen der Anstalt und den ins Leben übergetretenen Zöglingen möglichst aufrecht zu erhalten und den guten Einfluß auf die jungen, heranwachsenden Leute auch noch nach dem Austritte ausüben zu können und sie vor verschiedenen sozialen Gefahren zu schützen, hat die Verwaltung sowohl für Lehrlinge, wie auch für die Dienstmädchen Sonntagsunterhaltungsnachmittage eingeführt, an denen die Zöglinge ihren freien Nachmittag mit Lektüre, Spiel und ungezwungener Unterhaltung verbrachten. Diese Einrichtung hat sich auch im verflossenen Berichtsjahre wieder vortrefflich bewährt, und sind zu diesen Veranstaltungen besonders die Lehrlinge und selbst die erwachsenen männlichen Zöglinge fast jedes Mal vollzählig erschienen. Die Mädchenbesuche waren nicht so zahlreich, weil die Ausgangsordnung derselben seitens der Dienstherrschaft oft Verschiebungen erleidet, und dann ein Kommen der Mädchen nicht möglich war. Auch zu den üblichen, alljährlich wiederkehrenden Anstaltsfeiern wurden die ausgetretenen Zöglinge geladen und erhielten größere Sittenpreise in Form von Spareinlagen oder Kleidungs- und Wäschestücken. (...) Während die Mädchen in allen häuslichen Arbeiten unterwiesen wurden, wozu auch die praktischen Näharbeiten gehören, erhielten die Knabenzöglinge Unterweisung im Handfertigkeitsunterrichte und zwar in ihrer schulfreien Zeit. Dieser Unterricht erstreckte sich auf Bast- und Strohflechten, Kerbschnitt, Brandmalereien, Modellierarbeiten, Malen auf Papier, Porzellan, Holz, Leder und vor allem auch Zeichnen nach der Natur. (...)
Außerdem erhielten verschiedene Mitschüler Unterricht in Klavier, Violine und Harmonium, um sich die nötigen musikalischen Kenntnisse für ihren späteren Beruf anzueignen. Sämtliche Zöglinge vom 9. Jahre an bekamen Gesangsunterricht in wöchentlich 4 Stunden, um bei den Anstaltsfeierlichkeiten den gesanglichen Teil durchführen zu können. (...)
Um die Eintönigkeit, die jedem Anstaltsbetriebe im gewissen Sinne anhaftet, zu unterbrechen und von dem Grundsätze ausgehend, daß auf ernste Arbeit auch frohe Stunden folgen sollen, wurde jede Gelegenheit in der Anstalt wahrgenommen, den Zöglingen durch Veranstaltung kleiner Feste vergnügte Stunden zu bereiten und so das Band der Liebe und der Familienzusammengehörigkeit, welches Erzieher und Kinder verbinden soll, noch enger zu schließen. (. . .) Bei Gelegenheit des Namensfestes des Herrn Verwaltungsrates, des Verwalters und seiner Frau hatten die Kinder erwünschten Anlass ihre Dankbarkeit, Liebe und Anhänglichkeit durch Wort und Lied, wie im Familienkreis üblich, auszudrücken. " Im Laufe der folgenden Jahre wurden im Kinderasyl verschiedene bauliche Veränderungen und Einbauten vorgenommen. Im Jahre 1898 wurde eine Klosettspülung neu eingerichtet, im Sommer 1911 das Dach des Hauptgebäudes neu gedeckt und die Fassaden mit einem wetterfesten Putz versehen. Ein Jahr später wurde ein geräumiges Brausebad im Keller eingebaut. Im Jahre 1913 wurden die 8 Schlafsäle mit elektrischer Beleuchtung ausgestattet sowie die Gasbeleuchtung in den übrigen Räumen des Hauses modernisiert. Die Öfen der 4 Beschäftigungssäle und die 2 Öfen des Speisesaals wurden neu gesetzt und mit großen Dauerbrandkästen versehen, wodurch die Beheizungs- und Wärmeverhältnisse des Hauses ganz wesentlich verbessert wurden. Im Jahre 1917, während des 1. Weltkrieges, feierte das städtische Kinderasyl an der Hochstraße sein 25jähriges Bestehen.
Im Jahresbericht, der anlässlich dieses Jubiläums im August 1917 erschien, lesen wir dazu Folgendes: "25 Jahre sind inzwischen dahin gegangen und im 3. Jahre eines fürchterlichen Ringens, wie es die Welt schrecklicher noch nicht erlebt, eines Kampfes, der ganz. Europa in seinen Fugen erschüttert und der das deutsche Volk auf die härteste Kraftprobe stellt, es aber unerschüttert von einer Welt von neidischen Feinden noch aufrecht stehend findet, begehen wir heute in unserem Kriegerwaisenheime ein schlichtes Jubelfest, angepaßt dem Ernste der Zeit, in der wir leben. Ein Fest des innigen Dankes soll es sein gegen all diejenigen, welche dieses Haus gründen halfen und für die hochverehrten Stadtväter und edlen Gönner, welche in nimmermüder Fürsorge große Opfer brachten für unsere Waisen. Eine stattliche Zahl von Kindern hat die Anstalt im Laufe der 25 Jahre schon beherbergt und herangezogen, darunter auch viele Veteranenwaisen; schon wollte es scheinen, als ob dieselben zu Ende gingen, da unserem geliebten deutschen Vaterlande ein zu langer segensvoller Frieden beschieden war. Da brannte im August des Jahres 1914 plötzlich die fürchterliche Kriegsfackel über Deutschlands Osten und Westen lichterloh auf, angefacht von den ergrimmten Feinden, welche unser schönes, großes, stark und einig gewordenes Deutschland vernichten wollten. Doch, "viel Feinde, viel Ehr" - der inhaltsschwere Spruch unseres geliebten Königs - er hat sich bewahrheitet. Ungebrochen steht deutsche Einigkeit und Macht, gestählt durch deutsche Treue und verbunden mit kraftvollen treuen Freunden vor der Unzahl seiner Feinde siegreich da und nicht umsonst ist das kostbare Heldenblut tausender unserer Heldensöhne geflossen. Die Schwelle des 4. Kriegsjahres bereits überschritten, darf wohl die Hoffnung im Herzen des deutschen Volkes erweckt werden, daß ein baldiger und glücklicher Ausgang des menschenmordenden Kampfes für unsere gerechte Sache endlich den heißersehnten Frieden unserem geliebten Vaterlande bringen wird. Was kann uns alle aber dann mehr beglücken und im tiefsten Innern befriedigen, als die stete Fürsorge für die Tapferen draußen im Felde und nicht minder für die Hinterbliebenen derer, die im erbitterten Kampfe fürs Vaterland ihr Leben ließen. So wird unser liebes, schönes Kinderasyl wohl wieder auf viele Jahre hinaus seiner eigentlichen Bestimmung zugeführt, nämlich der, dass es den verlassenen Kriegerwaisen ein trautes Heim werde, eine Stätte geistiger und körperlicher Pflege. So wird unseren Kriegerwitwen, welche ihr Bestes dem Vaterlande geopfert haben, die schwerste Sorge vom Herren genommen - die Sorge für die vaterlosen Kinder. Das ist aber auch der schönste und beste Dank, den die Stadt München ihren gefallenen Heldensöhnen abstatten kann. Beim Rückblicke auf die verflossenen 25 Jahre kann mit großer Genugtuung festgestellt werden, daß der weitaus größte Teil unserer Zöglinge tüchtige und brauchbare Glieder der menschlichen Gesellschaft geworden sind. Verschiedene derselben verdanken unserer Anstalt ihre jetzige Lebensstellung und alle ihr auskömmliches Fortkommen. Hunderte von Briefen unserer Zöglinge, von der Front aus an uns gesandt, bekunden so recht, mit welcher Dankbarkeit und Liebe dieselben an ihren ehemaligen Erziehern hängen und wie sehr sie die im Hause genossene Ausbildung und weitere Unterstützung zur Erreichung einer besseren Lebensstellung zu schätzen wissen. Außer den schönen Stellungen, welche verschiedene Zöglinge in gewerblichen Betrieben einnehmen, haben sich andere durch emsiges Studium zu geachteten Besamtenposten emporgearbeitet und sind der Stolz und die Freude der Anstalt. Freilich hat der schreckliche Krieg schon schwere Lücken in die Reihe dieser wackeren Zöglinge gerissen und so manchen in der Vollkraft des Schaffens aus seinem verantwortungsvollen Posten hinweggerafft. Auch mit den Mädchenzöglingen hat die Verwaltung des Kinderasyls in der langen Reihe der Jahre viel Freude erlebt. Während die einen als treue Helferinnen der Hausfrau lange Jahre hindurch die feste Stütze der Familie sind, haben sich andere in gewerblichen und kaufmännischen Betrieben schöne Lebensstellungen errungen, so daß die mitunter recht schwere Erziehungsarbeit reiche Früchte getragen hat. Wenn der eine oder andere Zögling - es sind deren nur wenige - uns draußen im Leben enttäuscht hat, so wird uns das fernhin nicht hindern, mit gleicher Freude am Erziehungswerke weiterzuarbeiten, so lange es unsere Kräfte erlauben; es soll nach wie vor unser ernstes Bestreben bleiben, die uns anvertrauten Zöglinge zu braven, tüchtigen und fleißigen Menschen heranzubilden, die den schweren Existenzkampf, der beim Verlassen unseres Hauses an sie herantritt, aufnehmen und bestehen können. (...) Von dem Gedanken geleitet, dass die Erziehung der uns anvertrauten Kinder bei deren Austritt aus der Anstalt nicht abgeschlossen sein darf, setzte die Verwaltung die Fürsorge derselben auch dann noch fort, indem sie in steter Fühlung mit ihnen blieb durch Einführung der Sonntagsbesuche im Hause. Sowohl die Lehrlinge als auch die Dienstmädchen kommen gerne in ihr ihnen liebgewordenes Heim zurück und holen sich Rat, wenn das Leben oft recht hart an sie herantritt. Den Lehrlingen wurden reichliche Verpflegungsunterstützungen und Kleiderbeiträge gewährt und außerdem erhielten sie noch, wie auch die ausgetretenen Mädchen, als Lohn für ihre gute Führung und Tüchtigkeit, angemessene Beträge in das Sparbuch einbezahlt. Diese gesammelten Sparpfennige und die großen Aussteuerpreise halfen schon gar vielen Mädchen ihren Herd und ihr Familienglück gründen. Als am 1. August 1914 unser geliebter Kaiser seine deutschen wehrpflichtigen Männer zu den Fahnen rief, um den uns aufgedrungenen Kampf für Deutschlands Ehre und Bestehen gegen den mächtigen Feind aufzunehmen, da zog auch einer nach dem anderen unserer braven Zöglinge, die heimatliche Arbeitsstätte und so mancher auch Frau und Kind verlassend, dem Feinde entgegen, das geliebte Vaterland und den heimatlichen Herd zu schützen. Nahezu 200 ehemalige Zöglinge des Städtischen Kinderasyls stehen unter den Waffen - vom schlichten Soldaten bis zum Leutnant - jeder bereit sein Bestes fürs Vaterland zu opfern." Der Beginn des ,Dritten Reiches' und der damit verbundene Einfluss des Nationalsozialismus auf die Einrichtungen der öffentlichen Erziehung, machte auch vor dem Kinderasyl nicht Halt. Dies kommt im Verwaltungsbericht 1933/34 folgendermaßen zum Ausdruck: "Als Einrichtung nationalsozialistischer Gemeinschaftserziehung sucht die Anstalt die Familienerziehung nach Möglichkeit zu ersetzen und die Kinder zu Menschen heranzubilden, die religiös, sittlich, deutsch und
sozial empfinden, denken und handeln und sich der deutschen Volksgemeinschaft verbunden und verpflichtet fühlen. (. ..) Im Benehmen mit der Oberführung der ,Hitlerjugend' wurde im Stadt. Kinderasyl im Oktober 1933 ein Jungvolkzug aus allen Knaben von der 5. Klasse aufwärts gebildet, der dem Jungoberbannführer direkt unterstellt war und von den Kameradschaftsführern unter Anleitung und loser Oberleitung des Direktors der Anstalt geführt wurde. Mit dem Stammführer, dem Unterbannführer und dem Fähnleinsführer wurde in sehr gutem persönlichen Einvernehmen gearbeitet. Die Jungen dienten mit Begeisterung und Hingabe der Bewegung. Die Organisation der Jungmädel wurde vorbereitet. (...) Die großen politischen Ereignisse der Machtergreifung waren für die Kinder des Stadt. Kinderasyls mit tiefstem inneren Erleben verbunden. Ihre Begeisterung über die Berufung des Führers und den Anbruch des dritten Reiches fand schon in der Schlußfeier des Schuljahres 1933 durch das Spiel "Hinaus ins Leben" und dem Chor "Frühlingsgruß an das Vaterland" erhebenden Ausdruck. An allen großen Ereignissen jener Tage nahmen die Kinder tätigen Anteil, so besonders am Tag von Potsdam, an der Feier des 1. Mai 1933, an der Feier des 9. November 1933 bei welcher Gelegenheit es allen Kindern gegönnt war (...) auf bevorzugten Plätzen den Führer in ummittelbarer Nähe zu sehen und ihm zuzujubeln. Alle Erlebnisse aus der großen Zeit der Erhebung des deutschen Volkes werden den Kindern unauslöschlich im Herzen bleiben und ihr ganzes Leben den fruchtbaren Boden bilden treuer Hingabe an den Führer und an die Forderungen des Nationalsozialismus. Bei der Schlußfeier des Schuljahres 1933/34 brachten die Kinder das im nationalsozialistischen Denken geschaffene Spiel ,Deutschland erwache' (...) mit Gesängen in Anwesenheit (...) vieler Festgäste zur wirkungsvollen Darstellung." Im Verwaltungsbericht 1934/1935 lesen wir unter den "besonderen Ereignisse" Folgendes: "Das wichtigste Ereignis des Jahres war die durch Verfügung des Oberbürgermeisters der Hauptstadt der Bewegung vom 1. Juli 1934 durchgeführte Unterstellung unter das Schulreferat, wodurch der Zusammenschluß mit dem gesamten Erziehungswesen der Stadt in sehr begrüßenswerter Weise vollzogen ist. (...) In den Sommerferien 1934 bezogen die Kinder zum erstenmal das Ferienlager auf dem städt. Gut Karlshof. Im Wechsel von je 3 Wochen verlebten dort alle Knaben und Mädchen, die nicht zu Angehörigen aufs Land kommen konnten, glückliche Tage. Das ungezwungene Lagerleben in engster Berührung mit den Erziehern, die Gelegenheit zur Naturbeobachtung, der Umgang mit der Landwirtschaft, die reichliche Bewegung in Wald und Flur, spannende Geländespiele, das Schwimmen im Gutsteich, die Einwirkungen von Luft und Sonne und die kräftige Lagerkost, brachten nicht bloß körperliche Stärkung und Erholung, sondern auch einen großen erziehlichen Gewinn, Steigerung und Festigung des Vertrauens zu den Erziehern und Bereicherung der Erfahrung und des Wissens auf einem den Kindern bisher wenig bekannten Gebiet." Über die Organisationsstruktur des Kinderasyls, die Erziehungsschwerpunkte und den Erziehungsalltag in der Anstalt gibt uns der Verwaltungsbericht von 1938/1939 Auskunft: "Sie ist bestimmt zur Erziehung von Kindern, die ihre Eltern verloren haben oder aus irgend einem Grunde nicht bei ihren Eltern sein können. Aufgenommen werden in erster Linie schulpflichtige Kinder im Alter von 6 bis 14Jahren, aber in angemessener Zahl und nach Maßgabe der freien Plätze auch Schüler höherer Lehranstalten und Mädchen, die sich dem hauswirtschaftlichen Berufe zuwenden wollen und in der Anstalt selbst erzogen wurden. Zur Verfügung stehen 153 Plätze, 78 für Knaben, 75 für Mädchen. Die Aufnahme erfolgt ohne Unterschied des Bekenntnisses. Vorausgesetzt wird arische Abstammung, Erbgesundheit, normale Bildungs- und Erziehungsfähigkeit. Schwachsinnige und Schwachbegabte, die für den Bildungsgang in der Normalschule nicht geeignet sind, schwererziehbare, sittlich verdorbene, erblich belastete oder mit ansteckenden Krankheiten behaftete Kinder werden nicht aufgenommen. (...) Die Anstalt gliedert sich in 2 Mädchen- und 2 Knabenabteilungen, die nach Altersstufen getrennt sind. Jede Abteilung wird von einer Erzieherin geführt, die als Hortnerin, Kindergärtnerin oder Handarbeitslehrerin vorgebildet und geprüft sein muß. Eine 5. Erzieherin vertritt die Abteilungsleiterinnen an den dienstfreien Tagen. Die Führung der großen Knabenabteilung teilt sich der Direktor mit der betreffenden Erzieherin, die dafür ihrerseits als ständige Vertretung für den Direktor bestimmt ist und diesen in der Führung der Verwaltungsarbeit direkt unterstützt. Einen Teil der schriftlichen Verwaltungsarbeiten erledigen auch die übrigen Erzieherinnen. Jeder Abteilung ist eine ungeprüfte Kinderpflegerin für die pfleglichen Arbeiten, zur Schlafsaalreinigung, besonders auch für die Kleideranfertigung und -instandhaltung zugeteilt. In beschränktem Maße werden die Pflegerinnen auch zur Aufsicht als Helferin der Erzieherinnen herangezogen. Einer Pflegerin obliegt der pflegliche Dienst der Krankenstation. Den Küchendienst versieht eine Köchin mit zwei Gehilfinnen. Für die Zureichungsarbeiten in der Küche, das Spülen des Geschirrs und besonders für die sehr umfangreichen Hausreinigungsarbeiten stehen 5 Hausgehilfinnen und eine Aufwarterin zur Verfügung. In der eigenen Wäscherei wird von einer Maschinenwäscherin und einer Wäscherin die gesamte Wäsche gereinigt und gebügelt. Alles Gemüse, mit Ausnahme der Kartoffeln und des zum einlegen bestimmten Sauerkrautes, sowie die notwendige Milch werden in einem Eigengartenbetrieb unter einem beamteten Obergärtner und zwei Gehilfen und in einer Milchwirtschaft von einem Melker gewonnen. Mit der Milchwirtschaft, für die 9 Kühe benötigt sind, ist auch die Schweinehaltung (4 Schweine) verbunden. Das notwendige Futter wird soweit möglich durch Resteverwertung bereit gestellt. Der Eigengartenbetrieb und die Milchwirtschaft bieten wichtige Vorteile zur Verbesserung der Verköstigung der Kinder. Alle Gefolgschaftsmitglieder mit Ausnahme der beiden Wäscherinnen wohnen im Hause und werden im Hause voll verköstigt. Die Kinder werden nach dem Grad ihrer Leistungsfähigkeit zu häuslichen Arbeiten herangezogen. Einige schulentlassene Mädchen werden in der Hauswirtschaft ausgebildet. (...) Die gesamte Arbeit, die im Laufe des Jahres geleistet wird, steht im Dienste des Kindes. Die Sorge und die Bemühungen um die geistige und körperliche Entwicklung der anvertrauten Kinder ist ein zusammenhängendes Werk, das wohl in der Betrachtung aber nicht in der praktischen Arbeitsweise getrennt werden kann. Der körperlichen Entwicklung dient vor allem eine abwechslungsreiche, ausreichende und wohlschmeckende Kost. Die Mittel, die der Anstalt für die Verköstigung der Kinder zur Verfügung gestellt werden, reichen bei sorgfältiger Sparsamkeit, Geschick, Erfahrung, unablässigem Fleiß und gründlicher Überlegung aus, diese Anforderungen zu erfüllen. Der Durchschnittspreis der Verköstigung pro Tag und Kind beträgt ca. 75 Reichspfennige. Es ließe sich bei einer Erhöhung der Mittel die Kinderkost wohl noch in mancher Hinsicht verbessern, doch besteht gegenwärtig keine Möglichkeit in Hinblick auf die Gesamtkosten des Anstaltsbetriebes einen diesbezüglichen Antrag zu stellen. Eine erfreuliche Bereicherung der Verpflegung schafft der eigene Gartenbetrieb und die eigene Milchwirtschaft, insbesondere durch die frühzeitige Versorgung mit Frischgemüse bester Qualität, das unmittelbar aus dem Garten in die Küche kommt, und durch die hochwertige, gleichmäßig gute Milch. Außerdem ist für die körperliche Entwicklung die Pflege der Kinder von grundlegender Bedeutung. Sie werden mit unermüdlicher Konsequenz zur Reinlichkeit an sich selbst angehalten. (Regelmäßige Zahnpflege, Überwachung bei der Morgenwäsche, Sauberkeit an den Händen nach dem Spiel, Arbeit und Sport und vor den Mahlzeiten, Hand- und Fußpflege, regelmäßiger Haarschnitt und Beachtung der Frisur, Reinigungsbäder alle Samstage.) Das Ziel ist, im Laufe der Jahre den jungen Menschen daran zu gewöhnen auf sein Äußeres zu achten und dieses auch bei Arbeit und Sport zu pflegen, wie es der Selbstachtung eines gesitteten Menschen entspricht ohne Auffallen zu erregen. Die Reinlichkeitspflege steht also im Dienst der Gesundheitspflege und der Erziehung. Die Kleidung, die Leib- und Bettwäsche der Kinder, die unter Anleitung der Frau des Direktors von den Pflegerinnen und Erzieherinnen im Hause mit wenigen Ausnahmen selbst angefertigt wird, entspricht einem guten Zeitgeschmack. Von der farbigen Bettwäsche konnte im Laufe einiger Jahre auf weiße Bettwäsche übergegangen werden, die das Gesamtniveau hebt und sich gut bewährt. Die Kleidung ist nicht mehr so streng einheitlich wie früher. Soweit nicht alte Bestände aufgebraucht werden müssen, ist eine gewisse Buntheit bei den Mädchen und Abwechslung bei den Knaben, letztere auch manchmal durch kombinieren von Rock und Hose verschiedener ,Garnituren' alter einheitlicher Bestände schon erreicht, was von den Kindern als eine Befreiung von der ,Anstaltsuniformierung' dankbar empfunden wird und das kindliche Gemüt befreien und aufschließen hilft, den Geschmack hebt, der Erziehung also dienen kann. An der Reinigung und Ausbesserung der Kleider werden die Mädchen, in gewissen Grenzen auch die Knaben selbst beteiligt.
Auf die körperliche Erziehung im engeren Sinne, das ist die aktive Beeinflussung der körperlichen Entwicklung durch die körperliche Ertüchtigung, legt die Anstalt großen Wert. In diesem Punkte ist gegen früher eine Umstellung notwendig geworden, weil heute sowohl seitens der Schule als seitens der ,Hitlerjugend' durch Sport, Wandern usw. ausreichend körperliche Übungen getrieben werden, so daß mit einer planmäßigen Gestaltung und regelmäßigen Ausübung derselben Zurückhaltung geübt werden muß, schon um Überanstrengungen besonders einzelner sportlich übereifriger Kinder zu vermeiden. Den Kindern ist daher täglich nach Schluß der Schule eine gewisse Zeit zur zwanglosen Bewegung, eine sogenannte Freistunde eingeräumt, die grundsätzlich auch bei schlechtem Wetter im Freien verbracht wird.
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